von Leonhard Ehlen

 

Grenzgang: Sich in eine Freiheit begeben, die ihre Bindung im Vertrauten hat.

Grenzgänge geschehen uns (beim Gehen), indem wir unerwartet auf als fremd Empfundenes in der bisher vertrauten äußeren Wirklichkeit stoßen. Und das auch beim Thema Garten. Jeder von uns glaubt zu wissen, was ein Garten ist. Der Kiesgarten fordert neue Überlegungen. Grenzgänge sind wesentlich innere Prozesse, die sich an äußeren Begebenheiten, die als fremd empfunden werden, entzünden mögen. Konkret geht es um Kies, der gerade fuhrenweise in unsere blühende Vorstellung von Garten gekippt wird.

 

Den Begiff „Grenzgänge“ hat übrigens unsere Präsidentin, Gabriele Schabbel-Mader in die Runde der Gartenfreunde verklappt. Ich fühlte mich von dem mir schwer faßbaren Wort gleichzeitig erschlagen und aufgefordert. So mußte ich erstmal Übersicht gewinnen, indem ich es von mir warf und aus fernerer Warte sinnend betrachtete. Inzwischen habe ich mir Standbein und Luft verschafft und bin bereit, Kies und Garten unter dem Vorbehalt des Grenzgangs zu betrachten.

 

Gemäß dem Erlebnisgehalt: „Kiesgarten“, bleiben wir also im äußeren, um uns doch, notwendigerweise, gleich wieder ins Innere zu begeben. Denn was im Garten möglich sein sollte, nämlich in Erde wühlen, bleibt im Kiesgarten unmöglich. Man bekommt darin keine erdigen Hände. Es fehlt die Erdung. Dieser Affront, sofern er empfunden wird, zielt sogleich nach innen und wühlt uns, die erdverbundenen Gartenfreunde, gründlich auf.

 

Der japanische Garten in seiner typischen Gestalt, in dem der Kies, rituell geharkt, ein labendes Sinnbild für Wasser gibt, ist auch in unsere Kultur gut eingeführt. Eine ästhetisch-geistige Grundkonzeption, ein lebendiges Bild beharrender Dauer. Der japanische Garten dient keinem Gebrauch. Er nähert sich dem Bereich der Kunst.

Was wir zunehmend auf heimischen Grundstücken sehen können, ist Abdeckung mit Kies ohne nennenswerte Bepflanzung, in der Absicht der Selbstüberlassung. Kein Streben nach Schönheit, kein noch so verborgener Sinngehalt (über vermeintlich pflegeleicht hinaus) vermag unsere zunächst beleidigten Sinne zu besänftigen. Dabei gibt es gegen Kies an sich nichts Nachteiliges zu sagen. Wie konnte unser schöner Garten-Begriff vorsätzlich mit dem Kies-Begriff  kontaminiert werden? Beth Chatto war aus gutem Grund eine Vorreiterin, als sie einen ehemaligen Parkplatz in trockener Gegend vorfand und gestaltete.

 

Kiesgarten! Ein Bindestrich, der immerhin selbständige Seinsformen von Kies und Garten, wenn auch mit dem Versuch einer Verbindung kundtäte, ist als Schreibweise nicht zu finden. Ist ein Areal schon deshalb Garten, weil es umzäunt ist oder mit Kirschlorbeer umstellt? Ursprünglich bedeutete „Garten“, das mit Ruten (z.B. Hasel) Umzäunte. Wikipedia fügt dem Prinzip „Garten“ immerhin „Pflanzen“ hinzu. Kein Zweifel, gekonnte Setzung geeigneter Pflanzen im Lebensraum Kies bilden im Laufe der Jahre, unter fortlaufender Pflege, einen Garten von fragloser Schönheit. Nur das Knirschen bei jedem Schritt und das Gefühl fehlender Erdung machen mir den den Gang durch einen Kiesgarten noch zum Grenzgang.

 

Warum sprechen wir überhaupt vom „Kiesgarten“? Wir sagen doch auch nicht „Erdgarten“. Das Selbstverständliche drückt den Unterschied aus: Erde gehört zum Garten. Der Kies-Eindruck gehört in unserem kulturellen Umfeld der Postmoderne an, die oft genug schrill, ruhelos und schnelllebig auf uns einwirkt. Kies avanciert in diesem Kontext zum Sinnbild ruheloser Lebenssteigerung ohne geistig verbundenes Anliegen, wie z.B. Drang nach Schönheit und Erdung. Kies rückt hier in die Nähe eines verbreiteten Lebensgefühls der Informationsgesellschaft, die keine Zeit hat und wohl auch nicht haben will, sich der Schaffung und Pflege lebendiger Schönheit zu widmen. Kies erfährt eine emotionale Aufladung, wenn er mit Garten verbunden wird, ohne mit der des (Erd)-Gartens mithalten zu können.

 

Garten und Erde verbinden Empfängliche seit jeher mit Erdung und Schönheit. Kies spiegelt auch im Sinne der Empfindung eine mit Fremdsein behaftete, uneigentliche Oberfläche, unter der unabweisbare triebhafte Strebungen drängen, die bei nächster Gelegenheit durchbrechen wollen. Dies hat eine Analogie zur Medien- und Informationsgesellschaft, in der der Einzelne sich mittels Technik eine Informationsoberfläche in solcher Dichte gibt, daß unmittelbare „unvernünftige“ Regungen und Bedürfnisse zwar weiter unter der Oberfläche drängen, doch sofort mit Aktionen (z.B. Smartphone hervorholen, kaufen und verkaufen) gedeckelt werden. Was nicht durchkommen soll, muß man zuschütten. Draußen mit Kies. Drinnen mit beliebiger Aktion. In beiden Fällen geht es um die Kontrolle der eigenen, durchaus unbewußten Forderung, die Oberflächen zwecks Angstabwehr makellos zu halten. Beide Verhältnisse sind ohne unmittelbare Erdung. Es liegt nahe, daß Menschen mit solcher, ins Leere hinein tendierenden Daueranstrengung, ganz überwiegend auf einer Sachebene zu leben, unter schwer faßbarer Angst leiden.

 

Einzelgehölze in Kies oder Schotter wirken wie ausgestellt. Wenn sie kundig ausgesucht worden sind auch skulptural. Die abweisende, glatte Oberfläche des harten Materials erinnert durchaus an museale Orte, wo die weiß gehaltenen, glatten Wände die Wirkung der Objekte steigern. Solche Orte, so faszinierend sie schon als leerer Raum sein können, haben eine Aura von unbelebt. Sie bleiben einer Wirkung vorbehalten, die nur in gestaltlicher Kühle erreichbar ist. So wirken auch häufig die kubusartigen Wohn-Neubauten: durchsichtig und unbelebt wie Ausstellungsgebäude, Sonderheiten ohne Rücksicht auf die gewachsene urbane Umgebung. Kies und Schotter steigern diesen Eindruck. Solche Ensembles scheinen zum Lebensgefühl der jungen Gesellschaft zu gehören. Kies- und Schotterschüttungen sind aus dieser Perspektive konsequent. Nebenbei sind Schotter und Kies als Metaphern für Geld in Gebrauch.

Letzlich wurzeln auch Pflanzen, die bis zu den Knöcheln im Kies stehen in – wenn auch noch so karger – Erde. Natürlich gibt es Argumente für den Einsatz von Kies in Gärten. Kies hält in Trockenlagen den Boden feucht u.s.w. In diesem Beitrag geht es nicht um Argumente aus der Vernunft. Es geht um Erleben, um so etwas Elementares wie fremd oder vertraut, erdend oder enthebend, empfangend oder abweisend. Je nach Bedürfnislage und eigener Erdung wird es verschiedene Zugänge geben.

 

Bäk, den 25.01.2016

 

Foto: Roman Köhler